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Früher kamen Arbeiter, heute Akademiker. Eine neue Studie zieht eine positive Bilanz der veränderten Einwanderung. Doch es gibt auch Verlierer, zu finden sind sie im Mittelstand.
Sie müssen sich am Universitätsspital Zürich einem Eingriff unterziehen?
Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie von einem ausländischen Arzt behandelt werden, liegt bei 37 Prozent. Sie wollen an der ETH Zürich ein Studium aufnehmen?
Sie werden öfter auf ausländische Professoren stossen denn auf inländische. 57 Prozent der ETH-Professoren sind Ausländer. An der Uni Zürich halten die Schweizer Professoren mit 52 Prozent noch knapp die Mehrheit.
Die Schweiz erlebt eine starke Zuwanderung von gut qualifizierten Ausländern.
Dabei äussert sich das Phänomen auch ausserhalb von Operations- und Hörsälen, zumal in jenen Städten und Stadtteilen, die zu den bevorzugten Zielen dieser Einwanderer gehören.
Nur die Hälfte bestellt noch Gipfeli
Ein Spielplatz im Zürcher Kreis 6: Von den sechs Müttern und zwei Vätern, die mit ihren Sprösslingen im Sandhaufen graben, sprechen fünf hochdeutsch, zwei schweizerdeutsch und eine englisch. Eine Bäckerei im selben Quartier samstagmorgens: Knapp die Hälfte der Kunden bestellt Gipfeli, die übrigen wollen Hörnchen oder Croissants.
Fällt das Stichwort «Ausländer», führt die Schweizer Durchschnittsassoziation nach wie vor zu Begriffen wie «Asylbewerber», «Asylmissbrauch» oder «Ausländerkriminalität». Dabei hat sich die Realität inzwischen gründlich verschoben. Boris Zürcher, Geschäftsleitungsmitglied von Avenir Suisse, der Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft, schreibt: «Die öffentliche Diskussion scheint den Paradigmenwechsel in der Zuwanderungspolitik der Schweiz noch nicht verinnerlicht zu haben.»
Unter dem Strich: Positive Bilanz
Motor der neuen Zuwanderung ist der freie Personenverkehr mit der EU. Dabei sind es insbesondere Deutsche, welche die offenen Grenzen nutzen - aus keinem andern Land wandern auch nur annähernd so viele Personen in die Schweiz ein.
Avenir Suisse hat in einer Studie die neue Zuwanderung untersucht. Für die Autoren steht fest: Die Schweiz profitiert enorm. Erstens, weil die Zuwanderer Lücken füllen. «Ohne ausländische Ärzte hätten wir keine Chance, unsere Spitäler einigermassen regulär zu betreiben», bestätigt Christoph Bossard, Präsident des Verbands der Schweizer Assistenz- und Oberärzte (VSAO). Ähnliches gilt für Grosskonzerne oder Universitäten: Der Schweizer Markt ist zu klein, um die Nachfrage nach Spezialisten zu befriedigen.
Wer sind die Verlierer?
Zweitens verbessert die neue Immigration die Leistungsfähigkeit des Landes. Dies, weil sie den durchschnittlichen Bildungsstand anhebt und sich ein besserer Bildungsstand nachweislich auf die Produktivität auswirkt. Ausserdem beschleunigt die neue Zuwanderung das Wirtschaftswachstum. Beide Effekte kommen der ganzen Gesellschaft zugute.
Nichtsdestotrotz gibt es Verlierer. Das verschweigen die Avenir-Suisse-Autoren zwar nicht. Doch ihre Aussagen bleiben in diesem Punkt zurückhaltend.
Wer sind diese Verlierer? Und wie verändert sich unter den Vorzeichen neuer Gewinner und neuer Verlierer die Gesellschaft? Unbestritten ist: Die Konkurrenz am Arbeitsplatz ist härter geworden. Karrieren sind weniger planbar als früher, weil die Mitbewerber zahlreicher und die Anforderungen an die Mobilität höher geworden sind. Daran ist nichts auszusetzen, wenn die Konkurrenz dazu beiträgt, die Qualität eines Produkts oder einer Dienstleistung zu verbessern. Doch dem ist nicht immer so.
Schweizer Arztpraxen: eine lukrative Anlage
Beispiel Gesundheitswesen: Noch bis Ende nächsten Jahres werden in der Schweiz keine neuen Arztpraxen zugelassen. Die Massnahme, ursprünglich eingeführt, um die unkontrollierte Ausbreitung ausländischer Ärzte zu stoppen, bewirke das Gegenteil, klagt VSAO-Präsident Bossard. Gehe es - etwa nach einer Pensionierung - um den Verkauf einer bestehenden Praxis, würden «gut situierte, über-50-jährige ausländische Spezialärzte» derart hohe Summen bieten, dass der 40-jährige Schweizer Oberarzt keine Chance habe.
Ausländische Ärzte würden sich auf diesem Weg ihren Lebensabend in der Schweiz organisieren, so Bossard - mit einer Investition, die ihnen von Vermittlungsagenturen in Deutschland als Steuersparmassnahme wärmstens empfohlen werde. «Statt weniger haben wir‹dank› des Zulassungsstopps mehr ausländische Ärzte in Schweizer Praxen», so Bossard. Auch der Gesundheitsökonom Willy Oggier beobachtet die «preistreibende Wirkung», die durch mitbietende ausländische Ärzte entstehe. Allerdings, so Oggier, beschränke sich das Phänomen vorwiegend auf städtische Zentren.
Gegenbewegung an der Uni
Beispiel Universitäten: Reto Föllmi, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Bern und Mitautor der Studie, begrüsst die Internationalisierung an den Uni-Instituten. Dadurch würden alte Seilschaften gekappt und Günstlingswirtschaft erschwert. Ausserdem profitiere der einheimische Wissenschaftlernachwuchs von der Öffnung der Grenzen: «Das zwingt die jungen Leute, international beachtete Forschung zu betreiben.»
Doch auch an den Unis gibt es Verlierer: Föllmi stellt vor allem bei älteren Schweizer Privatdozenten einen «erheblichen Frust» fest - diese seit Jahren in der Warteschlaufe für eine Professur stehenden Wissenschaftler seien von der neuen, oftmals deutlich jüngeren Konkurrenz aus dem Ausland überrumpelt worden.
Professoren ohne Ahnung von der Schweiz
Der Berner Volkswirtschafter macht noch eine Feststellung: Die Internationalisierung der wirtschaftswissenschaftlichen Uni-Institute habe zur Folge, dass es in der Schweiz kaum mehr Volkswirtschaftsprofessoren gebe, welche die Schweizer Verhältnisse einigermassen kennen würden: «Da ist eine Lücke entstanden.»
Ähnliches stellt Ueli Mäder fest, Soziologieprofessor und bis vor kurzem Dekan der philosophisch-historischen Fakultät der Uni Basel. In den letzten Jahren seien in den Geistes- und Sozialwissenschaften zahlreiche Professoren aus Deutschland eingestellt worden. Inzwischen zeige sich, dass nicht jeder eine Koryphäe sei und dass «nicht nur die Liste der wissenschaftlichen Publikationen von Belang ist, sondern auch das regionale Wissen, das jemand mitbringt». Mit der Folge, so Mäder, dass ihm namentlich in den Geisteswissenschaften eine leichte Gegenbewegung zur Internationalisierung auffalle.
Ausländische Professoren bleiben stumm
Dass die Internationalisierung der Unis wichtig sei und bleibe, ist unbestritten unter Schweizer Wissenschaftlern. Doch die Kritik ist nicht zu überhören: Es sei «katastrophal», so ein Schweizer Hochschullehrer, wenn als Geschichtsprofessoren nur noch Ausländer angestellt würden, die mit den Schweizer Verhältnissen nicht vertraut seien und es deshalb nicht wagen würden, sich öffentlich zu aktuellen innenpolitischen Fragen zu äussern.
Hinzu komme: «Wenn schon internationalisieren, dann bitte richtig - mit Leuten aus China oder den USA, wie es in den Naturwissenschaften üblich ist. Und nicht nur mit Deutschen.» Zumal die deutsche Geschichtswissenschaft international stark an Terrain eingebüsst habe.
Schweizer Seilschaften gekappt, deutsche entstehen
Zudem führe der ausgeprägte Deutschlandfokus bei der Berufung von Professoren mitunter dazu, dass zwar «alte Schweizer Seilschaften gekappt werden; dafür gibt es neue deutsche».
Warum aber sind die Deutschen an den Deutschschweizer Universitäten so präsent? Gewiss ist es für deutsche Akademiker attraktiv, hier zu arbeiten - die Löhne sind besser, die Jobs sicherer als zu Hause und sprachliche Probleme gibt es keine. Die Folge: Es meldet sich nicht nur ein grosses, sondern auch ein gutes Bewerberfeld, was wiederum für die Unis attraktiv ist.
Offen ist, ob auch deshalb viele Deutsche eingestellt werden, weil sie bereit sind, zu tieferen Löhnen zu arbeiten. Bekannt sind Fälle von deutschen Wissenschaftlern, die Schweizer Universitäten angeboten haben, eine Lehrveranstaltung zu übernehmen, ohne dafür ein Salär zu verrechnen. Die Möglichkeit, die Tür zu einer Schweizer Uni einen Spaltbreit zu öffnen, ist ihnen Lohn genug. Ob es Hochschulen gibt, die auf solche Angebote eingetreten sind, ist nicht bekannt.
Werden die Toleranten intolerant?
Konkurrenz zwischen gut ausgebildeten Schweizern und gut ausgebildeten Immigranten gibt es auch in der Finanzindustrie, im Ingenieurwesen - kurz: in nahezu jeder ambitionierten Berufsgattung. Die Gemeinsamkeit: Betroffen sind gut qualifizierte Schweizer aus dem oberen Mittelstand - aus jener Bevölkerungsschicht also, die mehrheitlich für eine offene Schweiz eintritt, das Multikulturelle schätzt und daran nichts Bedrohliches findet.
Was geschieht, wenn sich dies ändert und es nicht mehr vorwiegend wenig Qualifizierte sind, die Fremde als Bedrohung empfinden? Die Frage ist bereits jetzt aktuell, wird aber noch aktueller, wenn die Schweiz tatsächlich in eine Rezession rutschen sollte - wenn also nicht mehr ständig neue Arbeitsplätze geschaffen, sondern welche abgebaut werden. Was, wenn die Schweizer Grossbank den Schweizer Finanzspezialisten entlässt, den deutschen aber behält? Was, wenn der Schweizer Industriekonzern den britischen Ingenieur dem Schweizer vorzieht? Dann könnte eine neue Fremdenfeindlichkeit entstehen, basierend auf der mittelständischen Existenzangst.
Die verletzten Mittelschichten
«Steigt die Verunsicherung des Mittelstands, begünstigt dies populistische Strömungen mit einem Hang zum Autoritären», warnt Soziologe Mäder. Untersuchungen aus Deutschland (30er-Jahre) und Frankreich (90er-Jahre) zeigten, dass diese Schicht besonders verletzt reagiere, wenn sie Abstiegserfahrungen hinnehmen muss, so Mäder.
Avenir Suisse zieht nach den ersten Jahren Personenfreizügigkeit eine positive Bilanz. Die wahren Herausforderungen, die uns die neue Zuwanderung beschert, stehen allerdings noch bevor.
Quelle: Press review avenir-suisse.ch
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