| Begegnung mit der Kathedrale in �ibenik Gesamtansicht der Šibeniker Jakobskathedrale
 Meine erste Begegnung mit der Šibeniker Jakobskathedrale  (Sv. Jakov) war zufällig. Mein Freund und ich arbeiteten als freiwillige Helfer  in einem kroatischen Flüchtlingslager in der Nähe von Šibenik. Dort, am Ufer  der Adria, entdeckte ich ein Bauwerk, das mich sofort faszinierte: Eine Kirche,  noch vom Krieg durch aufgestapelte Sandsäcke vor Granaten geschützt, mit  eigentümlich geformter Fassade. Ihre drei halb- bzw. viertelkreisförmigen  Giebel erinnern an die Blätter eines Kleeblattes. Daher nenne ich sie  Kleeblattfassade (kroatisch: trolisna pro�elja). Im Deutschen gibt es dafür nur  die Bezeichnung „welscher (also: italienischer) Giebel“. Denn Italien, die „Wiege“  der Renaissance, gilt als Ursprungsland dieses Giebels. Aber genau das begann  ich zu hinterfragen. Angespornt von der Skepsis und Neugier meiner Professoren  widmete ich mich der Jakobskathedrale und ihrer Fassade in meiner  Magisterarbeit (Leipzig, 1998). Ich wollte herausfinden, wo die  Kleeblattfassade entstanden war, in Šibenik oder in Venedig. Zunächst galt es,  bei der Literaturrecherche sprachliche Barrieren zu überwinden. Zumal von  deutschen Kunsthistorikern die Architektur Dalmatiens seit dem Ende der K &  K - Monarchie eher vernachlässigt wurde. Insofern moniert Radovan Ivan�evi�,  Professor an der Philosophischen Fakultät der Uni Zagreb, zu Recht, dass „viele  von diesen Werken der europäischen und der Weltöffentlichkeit nicht bekannt  sind.“  Die Jakobskathedrale in Šibenik aus der Vogelperspektive
 Eine gute Mischung Wer die Jakobskathedrale zum ersten Mal sieht, ist  beeindruckt von ihrer ausgewogenen Architektur, die wie aus einem Guss  entstanden scheint. Beim näheren Hinsehen entdeckt man jedoch zwei verschiedene  Stile. Formen der Gotik und der Renaissance sind hier harmonisch miteinander  vereint. Das Zusammenspiel der Stile lässt sich gut an der Fassade erkennen:  Die Spitzbogenfenster, das Portal und die Fensterrosetten zeugen von dem  gotischen Bauabschnitt. Die Pilaster, Friese und Gesimse hingegen gehören schon  zur Formensprache der neuen Epoche. Vor allem aber der Kleeblattgiebel, der aus  einfachen Kreissegmenten gebildet ist. Geometrische Formen wie Kreise oder  Quadrate entsprachen der Ästhetik der Renaissance. Der für Dalmatien typische  Mischstil verrät, dass die Kirche zu einer Zeitenwende gebaut wurde. Über ein  Jahrhundert dauerten die Bauarbeiten: von 1431 bis 1535. Heute, in der  Rückschau von einem halben Jahrtausend, ist demnach die Frage nach dem Urheber  der Kleeblattfassade nicht so schnell zu beantworten. Zumal neben einheimischen  Baumeistern an der Jakobskathedrale auch Venezianer, Florentiner und Albaner am  Werk waren. Es muss ein regelrechtes Sprachgewirr auf der Baustelle gegeben  haben.
 Eine internationale Baustelle Der erste und unterste Bauabschnitt (1431-41) ist geprägt  vom Geist und Stil der Gotik. In diesem Jahrzehnt waren venezianische  Baumeister tätig. Sie kamen für den Giebelentwurf nicht in Frage, da ihre  Baupläne später grundlegend geändert wurden.
 Die nächste, über 30-jährige Bauphase (1441-1473) leitete  Juraj Dalmatinac - also ein „Dalmatiner“. Der begabte Bildhauer und Architekt  aus Zadar hatte den Kopf voller Ideen. Er entwarf eine Kathedrale in viel grösseren  Dimensionen als ursprünglich geplant. Unter ihm entstanden Querschiff, Apsiden  und eine Taufkapelle. Neben anderen Steinmetzarbeiten schuf Juraj Dalmatinac  einen Fries aus 72 gemeisselten Köpfen. Aus Stein gehauene Gesichter mit  individuellen Zügen von Zeitgenossen. Angeblich stellen die hässlicheren  Charaktere jene geizigen Šibeniker Bürger dar, die sich vor Spenden für den  Kirchenbau gedrückt hatten. Auf das Geld war man angewiesen, denn finanzielle  Engpässe gab es damals schon. Darum auch die lange Bauzeit.  Nach dem Tod von Dalmatinac trat Niccolò Fiorentino aus  Florenz 1475 die Nachfolge am Dombau an. Er erbaute eine achteckige Kuppel und  vollendete die Kleeblattfassade, deren Entwürfe höchstwahrscheinlich auf seinen  Vorgänger zurückgehen. Formgebend für die Fassade war nämlich eine bis dahin  unbekannte Dachkonstruktion, die Juraj Dalmatinac erfunden hatte. Es war ein  tonnengewölbtes Dach, das komplett aus Stein bestand: Marmor von der Insel  Bra�. Ein kostbarer Baustoff für ein Dach. Der weiße Bra�er Marmor diente  übrigens nicht nur in Šibenik als Baumaterial, sondern auch dem  Diokletianpalast in Split, dem Weissen Haus in Washington und dem Berliner  Reichstag. Die Jakobskathedrale dürfte die einzige europäische Kirche sein, die  samt Dach und Kuppel ausschliesslich und vollständig aus Stein besteht. Wie war  das möglich? 
  
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    | Tonnendach aus Marmorplatten | Mittelschiff mit Tonnendach |  Marmor statt Holz Juraj Dalmatinac hatte eine geniale Idee: Statt das Dach  aus Holz zu zimmern, sollte es nun aus massiven bretterlangen Marmorplatten  montiert werden. Diese liegen wie Dachziegel übereinander, gehalten von  mächtigen Steinbögen hoch über den Kirchenschiffen. Wie Legosteine greifen die  Steinplatten ohne Mörtel ineinander. Auf diese Weise entstand nicht nur ein  äußerst stabiles, gewölbtes Dach, sondern auch ein neuer Fassadentyp. Denn an  der Stirnseite geschieht etwas Spannendes: Die inneren Tonnengewölbe der drei  Kirchenschiffe spiegeln sich außen als Rundgiebel wider. Der halb- und  viertelkreisförmige Dachquerschnitt verleiht der Kirche ihre kleeblattförmige  Silhouette.
  Die Renaissance-Proportionen der Šibeniker Fassade
 Das Gesicht der Kirche Die Fassade (von lat. „facies“, das Angesicht) ist das  Gesicht eines Bauwerkes. Manchmal, wie im Fall von Šibenik, lässt sie  anschaulich auf das Innere schliessen. Manchmal dient sie aber auch wie eine  Kulisse dazu, einem Bau mehr Grösse und Pracht zu verleihen. Dann ist die Rede  von einer Blendfassade. Bestes Beispiel dafür sind die Giebel der  venezianischen Gotik, die den klangvollen Namen „gotico fiorito“ (Blumengotik)  trägt. Dort folgen die geschwungenen Ziergiebel nicht der dahinter liegenden  geraden Dachform, sondern ragen weit darüber hinaus. So verwundert es, dass  gerade diese kulissenhaften Blendgiebel Venedigs als Vorläufer des Šibeniker  Kleeblattgiebels gelten. In Venedig hatte Juraj Dalmatinac zwar seine  künstlerische Ausbildung und Karriere begonnen. Als er aber nach Šibenik  berufen wird, lässt er nicht nur die Lagunenstadt hinter sich, sondern auch die  dortige Tradition der gotischen Blendfassade. Das von ihm erfundene gewölbte  Dach inspirierte ihn dazu, die verspielten gotischen Giebelverzierungen auf  reine Kreisformen zu reduzieren. Mit ihrer funktionalen Einheit von Innen- und  Aussenraum entspricht die Jakobskathedrale dem neuen Zeitgeist der Renaissance.  Wiedergeburt und Rückbesinnung - auch auf übersichtliche geometrische Formen.  Dieser Schritt zur vereinfachten Kleeblattform war die logische Konsequenz  eines Architekten, der sich auf das Wesentliche beschränkte. Alles spricht  dafür, dass die Kleeblattfassade in Šibenik unabhängig von Italien entstanden  ist.
  Kleeblattgiebel der Šibeniker Jakobskathedrale
 Kleeblattgiebel in Europa   Bauwerke - ganz besonders ihre Fassaden - widerspiegeln  Moden und Zeitgeist. Ist einmal ein Trend gesetzt, lässt er sich oft nicht mehr  aufhalten. Bauherren und Architekten, die europaweit unterwegs waren,  verbreiten neue Gestaltungsideen für Fassaden über Ländergrenzen hinweg.  Besonders populär ist die Kleeblattfassade in Kroatien. Man kann sie überall an  der östlichen Adria aufspüren: in Osor (Kathedrale), Zadar (Sv. Maria),  Dubrovnik (Sv. Spas), Svetvin�ent (Sv. Marija), Pag (Sv. Juraj) und Hvar.
 In Venedig findet man fast an jeder Strassenecke Kirchen  und öffentliche Gebäude mit Kleeblatt- und Rundgiebeln (S. Maria dei Miracoli,  Scuola di San Marco). Die früheste Kleeblattfassade erhielt San Michele in  Isola von Mauro Codussi um 1470. Sie ist die älteste Renaissancekirche  Venedigs. San Zaccaria, San Giovanni Crisostomo und die Chiesa dei Carmini  folgten. Weitere Stationen außerhalb Venedigs waren Bologna (San Giovanni in  Monte) und Sedrina (Pfarrkirche) in der Lombardei. So wundert es nicht, dass  man - angesichts seiner großen Beliebtheit in Italien - vom „welschen“ Giebel  spricht.  Auch nördlich der Alpen gehören Rundgiebel nun rasch zum  gebräuchlichen Formenschatz der Renaissancearchitektur. Dabei bildet im  deutschsprachigen Raum 1520 der Dom in Halle an der Saale den Auftakt. An der  Ostseeküste entlang verbreitet sich der neue Fassadentyp weiter gen Norden bis  Ostpreussen, Dänemark und Schweden. Selbst an Schlössern in Stockholm und  Uppsala tauchen zur Mitte des 16. Jahrhunderts Kleeblattgiebel auf.  Weltkulturdenkmal Im Jahr 2000 erklärte die UNESCO die Šibeniker  Jakobskathedrale zum Weltkulturerbe. Das lässt hoffen, dass Dalmatien bei uns  nicht nur wegen seiner sonnigen Adriaküste, sondern vor allem mehr noch wegen  seiner reichen Kultur geschätzt wird.
  Astrid Wappler,
 M.A., Kunsthistorikerin in Leipzig
 
 Aus der Libra Nr. 20, Zeitschrift des Kroatischen  Kulturklubs
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