Was macht Heimat aus?
„Wo kommen Sie denn her?“, fragt mein Gegenüber freundlich und neugierig, womit er mich ein kleines bisschen in Verlegenheit bringt. Denn auf diese einfache Frage habe ich keine schnelle Antwort, sondern eine Geschichte. Jeder, der, aus welchem Grund auch immer, seinen Ursprung verlässt, um in einem fremden Land, unter fremden Menschen neue Wurzeln zu schlagen, hat seine Geschichte. Meine persönliche Antwort auf die Frage der Herkunft lautet: Konstanz. Aber manchmal habe ich das Bedürfnis, mehr zu erzählen, meine Geschichte eben. Ich wurde in Rijeka geboren und wanderte mit meinen Eltern und der Grossmutter als Vierjährige nach Deutschland aus. In Konstanz bin ich aufgewachsen, in Zürich habe ich studiert, hier bin ich daheim. Aber auch bei mir gibt es dieses Aber. Ich möchte nicht für eine Deutsche gehalten werden, weil ich mich trotz Pass nicht als solche fühle. Als Kroatin auch nicht, denn ich wurde in Jugoslawien geboren und zuhause sprachen wir Serbokroatisch, Italienisch und Deutsch, alles durcheinander. Die Grossmutter erzählte von ihrem Leben in der multiethnischen Zeit der Donaumonarchie, von ihrer tschechischen Mutter und der ungarischen Schwiegermutter, die beide Josefine hiessen. Mein Vater liebte Zigeunermusik, ich weinte, wenn ich bosnischen Sevdah hörte und auf Ausflügen sangen wir alle „La mula di Parenzo“. Es war eine eigene, vielfältige und tolerante Welt. Diese hat mich geprägt, deshalb habe ich einen Araber geheiratet. Ich reise viel und gern, fühle mich dabei selten fremd. Aber ich musste neulich feststellen, dass mich beim Anblick des Schweizerkreuzes auf der Heckflosse der Swiss- Maschine ein warmes Heimatgefühl überkam.
Über ihr Heimatbild sprach ich mit mehreren Leuten…
Sonja Göldlin von Tiefenau, 45 Jahre, wohnhaft in Luzern
Im Deutschen gibt es die Heimat nur im Singular, im Kroatischen dagegen auch im Plural, was der Realität näher kommt. „Kroatien ist meine Heimat und in der Schweiz bin ich daheim“, sagt Sonja Göldlin von Tiefenau aus Luzern. Für sie ist Heimat das Umfeld, in dem sie ihre ersten, entscheidenden, sozialen Beziehungen knüpfte. Auch nach vielen Jahren in der Schweiz ist es die kroatische Sprache, in der sie sich „heimisch“ fühlt, die sie schneller und leichter Kontakte knüpfen lässt. Sonja ist mit einem Schweizer verheiratet und hat zwei Töchter, die kein Kroatisch sprechen. Ihr Lebensmittelpunkt ist die Schweiz. Dass sie sich in der Schweiz trotzdem einen kroatischen Freundeskreis aufgebaut hat, der ihr wichtig ist, erklärt Sonja wiederum mit der Sprache. „Sich besser ausdrücken zu können, schafft Vertrautheit. Ich bin in meiner Sprache auch irgendwie anders, vielleicht etwas lockerer. Meine Töchter bemerken dies, aber für sie ist das ganz normal“.
Kinder aus gemischten Ehen wachsen mit verschiedenen Kulturen und Sprachen auf. Diese werden ein Teil ihrer eigenen Biografien. Ob sie dies positiv erleben, kommt auf ihre Umgebung an. Für manche ist es mühsam, immer wieder mit Vorurteilen und Stereotypen konfrontiert zu werden, die ihnen in der Schweiz oft entgegengebracht werden, wenn ihre Namen auf -i� enden.
Miro Künzle, 24 Jahre, wohnhaft in Bern
Manche wollen die kroatische Sprache gar nicht sprechen, obwohl sie sie verstehen. Andere dagegen gehen spielerisch damit um. „Die Antwort hängt davon ab, wer mich das fragt, ich kann ja mehrere geben! Einem Händler in Istanbul sage ich, ich käme aus Kroatien, resp. Bosnien, dann kann ich besser um den Preis feilschen. In einer Pizzeria oder einem Modegeschäft in Rom bin ich natürlich Italiener oder aus Istrien, beim Steuerberater und im Kontakt mit den Behörden bleibe ich natürlich lieber ein Schweizer“, sagt Miro Künzle aus Bern, der sich in fünf Sprachen locker unterhalten kann. Seine Eltern haben schweizerisch-kroatische und schweizerisch-italienische Wurzeln. Man ging in der Familie mit den Sprachen sehr bewusst um und Miro und sein jüngerer Bruder sind sprachbegabt. So schlüpfen sie in Rollen, um Spass zu haben und um zu provozieren. Erst sprechen sie im Zug Balkanslang und verabschieden sich dann bei ihren Sitznachbarn in breitem „Mattenenglisch“ (Berndeutsch). „Spass beiseite, würde ich sagen, ich bin ein Schweizer mit kroatisch-italienischen Wurzeln und meine Heimat ist da, wo es mir gut geht und die Umstände am ehesten meinen Wunschvorstellungen entsprechen. Heimatliche Gefühle werden bei mir durch ganz unterschiedliche Dinge ausgelöst: ein Alphorn, den alten SBB- Speisewagen, den Duft von gegrillten Cevapcici, oder auch durch ein Gedicht in venezianischer Sprache.“ Miro hat, wie viele Jugendliche in der Schweiz, eine Patchwork-Heimat. Der Begriff Heimat ist für ihn nicht an einem Ort fest zu machen. Alles, was vertraut ist, ist ein Stück Heimat. Man trägt sie im Herzen und nimmt sie überall mit.
Marko Sauer, 36 Jahre, wohnhaft in Wil
Das tun auch alle Auswanderer, sie tragen die alte Heimat in sich und vermitteln sie ihren Kindern, die im neuen Land aufwachsen. Diese Kinder leben in zwei Welten. Zu Hause wird kroatisch gesprochen, kroatisch gegessen und es werden den Kindern viele Geschichten aus der alten Heimat und den Verwandten dort erzählt. Verlassen sie das Haus, betreten sie eine andere Welt, die genauso ihre Welt ist. „Als Jugendlicher habe ich mich immer gefreut, wenn die Schweiz oder Deutschland gegen Kroatien spielten, denn dann konnte ich immer nur gewinnen“, sagt Marko Sauer aus Wil, der seinen Namen der deutschstämmigen Familie seines Vaters verdankt. Er kam als Vierjähriger mit Eltern und Geschwistern in die Schweiz, Kroatien kennt er nur aus den Ferien. „Meine einzigen Erinnerungen an das Leben in Zagreb sind der Geruch der Pliva-Fabrik in deren Nähe wir wohnten und der Klang einer Schlosserei.“ Trotzdem bezeichnet sich Marko als Schweizer mit kroatischen Wurzeln. Der häusliche Mikrokosmos hat ihn entsprechend geprägt. „Lange Jahre waren meine Eltern und meine Verwandten die einzige Verbindung zu Kroatien. „So wie ich mich von den Eltern löste, wurde diese Bindung schwächer. Ich fühlte mich von den Schweizern in meiner Entwicklung besser verstanden.“ Mit dem Erwachsenwerden baut man sich sein eigenes Leben auf. Die Schweiz wird zur Heimat, doch das Bewusstsein bleibt, dass die Herkunft eine andere ist. „Heute spüre ich das Bedürfnis, mir das Land und die Kultur, die ich eigentlich nur aus der Perspektive meiner Eltern kenne, selbstständig anzueignen.“ Marko ist von Beruf Architekt und er würde gerne mit irgendeinem Projekt in Kroatien eigene Erfahrungen sammeln.
Für „Heimat“ gibt es keine allgemeingültige Definition, doch sind sich die Wissenschaftler einig, dass für die Entstehung eines Heimatgefühls soziale Beziehungen, gemeinsame Normen und Werte unabdingbar sind. Heimat bedeutet dazu zu gehören, Verbundenheit und Vertrautheit zu spüren, eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Deshalb kann man auch mehrere Heimaten haben. Zur ursprünglichen Heimat hat man eine lebenslange Beziehung. Auch wenn es nur Erinnerungen an die Kindheit oder Erzählungen der Eltern sind, auch wenn diese Heimat so gar nicht mehr existiert, bleibt sie immer ein Teil von uns. Der Ort und das soziale Umfeld, in dem wir leben, werden uns mit der Zeit ebenfalls zu Heimat.
„Als ich zum ersten Mal sagte, gehen wir nach Hause und Luzern meinte, da wusste ich, dass ich in der Schweiz angekommen bin“, sagt Sonja Göldlin von Tiefenau.
Aus der Libra Nr. 29, der Zeitschrift des Kroatischen Kulturklubs der Schweiz
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